* 43 *

Eine kleine rote Katze kam aus dem Gang getrabt, der zum königlichen Landungssteg führte.
»Ullr!«, rief Nicko.
»Pst!«, warnte Septimus.
Nicko hob Ullr hoch. »Snorri?«, rief er flüsternd in den Tunnel. Doch es war Jenna, die aus dem Dunkel auftauchte, nicht Snorri.
Marcellus Pye war allein in der Großen Kammer der Alchimie und Heilkunst. Er saß auf seinem Sonnensitz am Kopfende des Tischs, das Gesicht in den Händen vergraben. Als er Schritte aus dem Labyrinth nahen hörte, geriet er in Panik. Er sprang auf, schlüpfte in den Abzugsschrank und schloss zitternd die Tür. Er konnte seiner Mutter nicht gegenübertreten, nicht jetzt.
»Was meinst du damit, sie sei einfach ins Wasser gefallen, Jenna?« Nickos Geflüster drang bis in die Große Kammer. »Hat sie denn nicht versucht, wieder herauszukommen?«
»Nein, es hat plumps gemacht, und weg war sie. Es war eigenartig. Als ... als hätte sie keine Lust gehabt, etwas zu tun. Als hätte sie gedacht, es sei im Grunde egal.«
»Na ja«, gab Septimus zu bedenken, »das ist es ja auch, wenn man glaubt, dass man ewig lebt.«
Marcellus hörte im Abzugsschrank jedes geflüsterte Wort, und langsam dämmerte ihm, dass sie über seine Mutter sprachen.
Jenna war vom Anblick ihrer untergehenden Ur-ur-ur-und-so weiter-Großmutter noch arg mitgenommen. »Aber ich habe ihren Tod nicht gewünscht. Wirklich nicht, ich ...«
Marcellus hielt den Atem an und musste sich an einem Regalbrett abstützen. Ihren Tod? Mama war tot?
»Iiiih!« Ein Schrei ertönte aus dem Abzugsschrank, und die Tür flog auf. Die vorigen Insassen des Schranks machten vor Schreck einen Satz, als Marcellus Pye herausstürzte, in der Hand eine lange schwarze Schlange, die er direkt hinter dem Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Das Maul der Schlange stand offen, und aus ihren weißen Zähnen troff Gift vorn auf Marcellus’ schwarze Robe. »Fürwahr, welch hinterhältig Biest!«, schimpfte er, lief zu dem Arbeitstisch, der bis vor Kurzem die Phiole mit seiner Tinktur beherbergt hatte, riss den Deckel von einem großen Glasgefäß, warf die Schlange hinein und knallte den Deckel wieder darauf.
Dann wischte er sich das Gift – das eine interessante Wirkung auf die Orangensoße hatte – sorgfältig von der Robe und betrachtete sein erstauntes Publikum. »Ich bitt dich, Septimus«, sagte er schnell, »lauf nicht fort.«
Septimus seufzte. So viel zum Thema Hinterhalt. Jetzt waren sie selbst in einen Hinterhalt geraten. Müde zog er seinen Stuhl am Rosensitz hervor und ließ Jenna darauf Platz nehmen. Sie sah blass aus und hatte vom Schwanz des Aie-Aie rote Striemen am Hals. Immer noch arg erschüttert, nahm sie Ullr auf den Arm und drückte ihn, um etwas Trost zu finden. Nicko hielt sich abseits, denn er traute Marcellus nicht. Septimus hingegen setzte sich, wie es seine Gewohnheit war, wenn er in der Kammer nichts zu tun hatte, auf den Stuhl eines Schreibers und gähnte. Bald brach in der Kammer der Alchimie und Heilkunst ein neuer Arbeitstag an, bald erschienen die ersten Schreiber der Frühschicht.
Marcellus bemerkte, das Septimus gähnte. Es war eine lange und anstrengende Nacht gewesen. Er setzte sich auf seinen prächtigen, hochlehnigen Stuhl am Kopfende des Tisches und betrachtete Jenna und Septimus mit nachdenklicher Miene. Da war etwas, worüber er mit ihnen sprechen wollte.
Nicko blieb dem Tisch fern. Er hielt nichts von diesem gemütlichen Plausch mit dem Mann, der Septimus entführt hatte. Er hatte den Eindruck, dass es leicht wäre, ihn zu überrumpeln. Mit den Muskeln, die er sich bei der Arbeit auf der Bootswerft zugelegt hatte, konnte er es mit jedem aufnehmen, besonders mit einem schlaksigen Alchimisten, der so aussah, als hätte er zu viel Quecksilberdampf eingeatmet. Das einzige, was ihn zurückhielt, war Snorri. Wo war sie? Was sollte er tun? Nicko war hin- und hergerissen und so mit seinen Gedanken beschäftigt, dass er den Vorschlag nicht hörte, den Marcellus Septimus machte.
Am Ende ihres Gesprächs lächelten beide, Marcellus und Septimus. Nun, da die Entscheidung getroffen war, lehnte sich Marcellus zurück.
Unterdessen hatte auch Nicko eine Entscheidung getroffen. Er wollte sich den Schlüssel holen. Jetzt oder nie. Mit einer Geschmeidigkeit, die er von Rupert Gringe gelernt hatte, pirschte er sich von hinten an Marcellus heran und packte ihn an der Gurgel.
»Nimm den Schlüssel, Sep ... schnell!«, schrie er.
»Urgggg!«, röchelte Marcellus, dem es die Luft abschnürte, als Nicko an der dicken Kette riss, an welcher der Schlüssel hing.
»Nicht, Nicko!«, rief Septimus, während Marcellus bedenklich blau anlief.
»Wir müssen es jetzt tun.« Ein heftiger Ruck. »Es ist unsere letzte Chance.« Noch ein Ruck. »Mach schon Sep, hilf mir.« Und noch einer. Marcellus quollen die Augen aus dem Kopf. Er bekam immer mehr Ähnlichkeit mit den eingelegten lila Fröschen auf dem obersten Regal im Abzugsschrank.
»Nicht, Nicko!« Septimus zog seinen Bruder fort, und Marcellus sackte japsend auf seinem Stuhl zusammen.
Nicko war wütend. »Wieso tust du das?«, fragte er. »Du Idiot!«
»Selber Idiot«, erwiderte Septimus. »Er hat uns den Schlüssel gerade angeboten. Er will uns gehen lassen – oder wollte es zumindest eben noch.«
Jenna ergriff einen Krug, der auf dem Tisch stand, und goss Marcellus ein Glas Wasser ein. Er nahm es mit zitternder Hand und trank es leer. »Danke, Esmeral... äh ... Jenna. Ich bitt dich, nimm dir selbst, denn mich dünkt, du brauchst es nötiger als ich.« Dann wandte er sich an Septimus. »Nun, Lehrling, wünschest du noch immer, durch die Große Tür zu gehen? Vielleicht findest du in deiner Zeit Freunde, die weniger rabiat synd.«
»Ich wünsche es noch immer«, antwortete Septimus, »und ich wünsche, dass mich meine Freunde begleiten.«
»Soll mir recht seyn, wenn deine Freunde es so wünschen, doch lauern unbekannte Gefahren auf dem Weg durch eine Zeit, die nicht die eigene ist. Keiner, der gegangen, ist je zurückgekehrt. Drum wird diese Tür allzeit bewacht.« Marcellus stand auf und sah Septimus ernst an. »Dann sind wir uns einig?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Septimus.
»Ich vertraue dir«, sagte Marcellus, »so wie ich noch nie einem Menschen hab vertraut. Nicht einmal meiner lieben Broda. Ich leg mein Leben in deine Händ, Lehrling.«
Septimus nickte.
»Was geht hier vor, Sep?«, zischte Nicko, dem die ganze Sache nicht gefiel.
»Es geht um die Konjunktion der sieben Planeten«, antwortete Septimus.
»Um was?«
»Marcellus kann keine neue Tinktur herstellen, jedenfalls keine, die wirkt, solange nicht dieselbe Planetenkonjunktion stattfindet.«
»So? Pech für Marcellus, aber was geht das uns an?«
»Sie findet morgen statt.«
»Wie schön für sie.«
»Sie findet morgen statt – in unserer Zeit!«
Nicko zuckte mit den Schultern. Er verstand nicht, was die Planeten mit ihrer Rückkehr zu tun hatten.
»Ich habe versprochen, die Tinktur in unserer Zeit herzustellen, Nicko. Morgen zur Zeit der Konjunktion. Ich kann sie so brauen, dass Marcellus auch in unserer Zeit jung kann sein. Davon bin ich überzeugt.«
»Kommt er etwa mit?«, fragte Nicko entsetzt. »Aber er hat dich entführt!«
»Nein, er kommt nicht mit. Er ist schon dort, nur eben alt und krank. Ich werde versuchen, ihm zu helfen. Und jetzt Schluss mit der Fragerei, Nicko. Willst du denn nicht nach Hause?«
Natürlich wollte er, furchtbar gern sogar – aber nicht ohne Snorri. Er behielt ständig den Eingang zur Großen Kammer im Auge in der Hoffnung, dass sie plötzlich mit fliegenden Haaren und leuchtenden Augen hereinstürmte und er ihr sagen konnte, dass sie nun alle nach Hause zurückkehrten.
Marcellus nahm den Schlüssel vom Hals und prüfte die verbogenen Glieder der Kette, die Nicko beinahe zerbrochen hätte. Dann ging er zu der Tür und begann mit den Vorbereitungen für ihre Öffnung. Die Standbilder steckten die Schwerter in die Scheiden und neigten die Köpfe, als Marcellus den Schlüssel in die entsprechende Vertiefung in der Mitte der Großen Tür legte. Und dann ertönte aus dem Innern der Tür ein Geräusch, bei dem sich Septimus die Nackenhaare sträubten – das Klirren des Riegels, ein Geräusch, dass er zum letzten Mal gehört hatte, als sich die Große Tür vor hundertsiebzig Tagen hinter ihm geschlossen hatte.
Langsam und geräuschlos schwang die Große Tür der Zeit auf. Das Gold funkelte im Kerzenlicht, als sich die Flügel teilten und die dunkle Fläche des Spiegels enthüllten, der geduldig wartend dahinter stand. Septimus hatte ganz vergessen, wie tief der Spiegel aussah, und als er in seine Tiefe blickte, war ihm, als stehe er an einem Abgrund. Ein vertrautes Schwindelgefühl kroch von seinen Füßen herauf und ließ ihn taumeln.
»Leb wohl, Septimus«, sagte Marcellus, »und hab Dank.«
»Und ich danke Ihnen für alles, was Sie mich über die Heilkunst gelehrt haben«, antwortete Septimus.
»So nimm denn dies«, sagte Marcellus und reichte dem überraschten Septimus den Schlüssel. »Damit lasset sich der Spiegel am End der Lapislazulitreppe öffnen. Dort müsset ihr hinaus. Behüt ihn gut, ich werd mir einen neuen machen. Und deine Medizintruh stell ich sub rosa in den Kleiderschrank oben auf der Trepp zum Zaubererturm. Verwend sie gut, du hast die Anlagen zu einem großen Physikus.«
»Das werde ich«, versprach Septimus. Er nahm den Schlüssel und hängte ihn sich um den Hals. Er fühlte sich schwer an und war noch warm von Marcellus’ Berührung. »Aber wie«, fragte er, »soll die Tinktur übergeben werden?«
»Sei unbesorgt, ich will dich nicht bitten, sie durch den Spiegel zu bringen, denn ich weiß wohl, wie dir davor graut. Ich bitt dich, leg die Tinktur in eine goldene Schatulle mit dem Symbol der Sonne darauf und wirf sie in den Burggraben neben meinem Haus. Ich werd sie finden.«
»Woher weiß ich, dass Sie sie gefunden haben?«, fragte Septimus.
»Dies wird dir der goldene Flugpfeil verraten, den ich an meiner alten Person bemerket. Ich werd ihn in die Schatulle legen. Bist du Angler?«
»Nein«, antwortete Septimus verdutzt.
»Mich dünkt, dann wirst du einer werden«, kicherte Marcellus. »Der Flugpfeil wird mein Dank an dich seyn und dir große Freiheit bringen.«
»Das hat er schon«, murmelte Septimus, »bis Sie ihn mir weggenommen haben.«
Marcellus hörte es nicht. Er hatte seine Aufmerksamkeit Jenna zugewandt.
»Fürchte nicht, dass meine Mutter dich in deiner Zeit weiter heimsuchet«, sprach er zu ihr. »Obwohl sie von meiner Tinktur trunken, die, obgleich unfertig, ihrem Geist eine gewisse Substanz geben möcht, wird sie dich nimmer belästigen. Der Außergewöhnliche Zauberer und ich werden sie in ihr Porträt einschließen. Mich dünkt, ich sollt auch den Aie-Aie zur Strecke bringen, denn hat er nicht auch von meiner Tinktur trunken? Er ist ein gar giftig Geschöpf und verbreitet mit seinem Biss ein Seuch, was Mama dazu benutzet hat, allen Angst zu machen, die ihr missfallen. Gut, Jenna, es sei beschlossene Sach: Ich will sie beide in das Porträt einschließen und in einem Raum versiegeln, den keiner find.«
»Aber Dad hat ihn entsiegelt«, stieß Jenna hervor.
Marcellus antwortete nicht. Etwas im Spiegel hatte seine Aufmerksamkeit erregt.
»Dad hat was?«, fragte Septimus.
»Er und Gringe haben Etheldreddas Porträt entsiegelt. Weißt du nicht mehr? Es hing im Langgang ...«
Marcellus fiel Jenna ins Wort. Mit unverkennbarer Angst in der Stimme sagte er: »Ich bitt euch, säumt nicht länger, der Spiegel wird unbeständig. Ich seh Risse tief in seinem Innern. Er wird nicht mehr lange halten, fürcht ich. Geht – jetzt oder nie!«
Septimus sah im Innern des Spiegels, was Marcellus gesehen hatte. Hinter langen, trägen Strudeln der Zeit, die sich darin bewegten, bildeten sich Risse an den Rändern des Glases. Marcellus hatte recht. Jetzt oder nie.
»Wir müssen los!«, schrie Septimus. »Sofort!« Er packte Jenna mit der einen und Nicko mit der anderen Hand und lief zum Spiegel.
Im allerletzten Moment riss sich Nicko los. »Ich gehe nicht ohne Snorri.«
»Nicko«, rief Septimus verzweifelt, »du musst mitkommen, du musst!«
»Der Spiegel wird nicht warten«, drängte Marcellus. »Fort mit euch, fort, eh es zu spät ist.«
»Geht!«, rief Nicko. »Ich komme später nach. Versprochen.« Damit rannte er aus der Großen Kammer der Alchemie und Heilkunst.
»Nein, Nicko. Nicht!«, schrie Jenna. »Komm, Jenna«, sagte Septimus. »Wir müssen los.« Jenna nickte, und zusammen mit der roten Katze traten sie in den Spiegel und schritten durch die flüssige Kälte der Zeit.